Eine gegen die Klischees
Mirela Salihovic, Schriftstellerin und Regisseurin, 21 Jahre alt, ist auf dem Balkan bereits ein Star. Mit einem Film über Gewalt unter Jugendlichen hat sie den Hauptpreis beim Jugendfilmfestival in Zenica gewonnen. Die Dreharbeiten zu ihrem nächsten Projekt beginnen Ende des Monats.
Es ist Freitagmittag. Die Rufe des Imam verhallen in den Felswänden. In den Olivenhainen blökt eine Herde Schafe. Ein kleines Haus in einem montenegrinischen Fünfhundert-Seelen-Dorf an der Adria. Drei winzige Zimmer, in denen es nach Zigarettenrauch riecht. Der Fernseher läuft, auch wenn Besuch da ist. Die Mutter kann nicht ohne Fernseher leben, sie sagt, sie ertrage die Stille nicht.
Mirela bietet Saft an und sagt: „Wenn du Kaffee willst, musst du warten, bis mein Bruder kommt. Ich kann nämlich nicht kochen, nicht einmal Kaffee.“
Der Bruder und der Vater haben in diesem Monat eine Arbeit. Sie sollen im Nachbardorf eine Mauer aus Stein um ein Anwesen bauen. Das Material kommt aus dem Nachbarland Bosnien. Rohe, klobige Steinbrocken. Jeder Brocken muss mit einem Hammer passend geschlagen werden, bis die Oberfläche glatt ist und die Form sich regelmäßig einpasst. Eine dieser Mauern, wie sie hier seit hunderten von Jahren gebaut werden. Mühevolle, zeitraubende Handarbeit. Der Mann, der Stein und der Hammer. Mirela, die Schriftstellerin und Regisseurin, hat gerade keine Zeit, um darüber nachzudenken. Auch in ihren Semesterferien arbeitet sie bis tief in die Nacht an ihren Projekten. Sie studiert in Sarajevo an der Filmhochschule und ihr erster Kurzfilm, „Sljive“ (Pflaume), hat jetzt einen Preis gewonnen. Ihr Facebook-Profil hat über dreitausend Freunde. Sie postet Fotos. Mirela, wie sie auf das Meer blickt, Mirela, wie sie auf der Fensterbank sitzt, Mirela in engen Hosen und Stiefeln, das blondierte Haar weht im Wind. Dazwischen postet sie Filmsequenzen, Links zu ihren Arbeiten, Interviews, Sinnsprüche. „Sei offen für alles, aber binde dich an nichts“, steht da zum Beispiel.
Die Eltern sind vorsichtig, sie trauen dem Ruhm nicht ganz. „Mädchen heiraten“, sagt die Mutter. Und der Vater sagt: „In Montenegro sitzen Mädchen mit Hochschulabschluss im Kiosk an der Bushaltestelle und verkaufen Zeitungen und Zigaretten.“ Doch Mirela lässt sich nicht beirren. Sie hat sich noch nie beirren lassen. Bereits in der Grundschule interessiert sie sich dafür, wie Filme gemacht werden. Im Gymnasium schreibt sie ihre ersten Romane. Die Lehrerin förderte sie und in den Zeitungen steht bald, dass Montenegro nun eine eigene Joanne Rowling hätte. Von ihren Klassenkameraden wird sie gemobbt. Mirela schreibt weiter.
An der Akademie der Darstellenden Künste Sarajevo hat sie sich gegen mehr als einhundert Mitbewerber durchgesetzt. In ihrem Jahrgang wurden nur sieben Studienplätze vergeben. Sarajevo, die Geburtsstadt Emir Kusturicas. Doch sie erwähnt Kusturica mit keinem Wort. Ihre Vorbilder sind andere: Andrei Tarkovsky, Ingmar Bergman, Guillermo del Toro oder Martin Scorsese.
Ob die Eltern sich nicht Sorgen machen, die Tochter alleine in der großen Stadt? „Wenn ich Dummheiten machen wollte, dann hätte ich das bereits schon hier getan“, sagt sie bestimmt. „Ich bin nach Sarajevo gegangen, damit aus mir etwas wird.“ Sie hat ein klares Ziel vor Augen. „Ich will Menschen, die nicht selbst für sich sprechen können, in meinen Filmen und Theaterstücken eine Stimme geben.“ Ende April beginnt sie die Dreharbeiten zu ihrem nächsten Film. Darin wird sie die innere Welt eines jungen Menschen mit einer psychischen Erkrankung darstellen und dabei thematisieren, wie unterschiedlich Gesellschaften mit psychischen Erkrankungen umgehen. „Es ist sehr wichtig, solche Geschichten zu erzählen, da psychische Erkrankungen ein Teil der Realität sind, in der wir gerade leben.“
Mirela greift in ihren Erzählungen und Filmen Themen auf, die ihr nahestehen. Sie verarbeitet Situationen, die ihre Familie, ihre Freunde oder sie selbst erfahren haben. Ungewöhnlichen Perspektiven gilt ihr spezielles Interesse.
In „Sljive“ erzählt sie aus Tätersicht die Geschichte eines Mobbers, der einen Klassenkameraden tyrannisiert. Der Mobber ist jedoch selbst ein Opfer von Gewalt. „Mit diesem Film wollten wir auf die möglichen Ursachen von Gewalt unter Gleichaltrigen aufmerksam machen, die häufig in der Familie des Täters zu finden sind,“ erklärt sie. Der Film endet damit, dass die beiden Jungen Frieden schließen – sie entwickeln ein Verständnis füreinander.
Ob sie denkt, dass Bosnier und Serben irgendwann ein Verständnis füreinander entwickeln können? Mirela schweigt.
Ihre Mutter ist eine Überlebende aus Srebrenica. Der Bruder der Mutter war einer der annähernd zehntausend bosnisch-muslimischen Männer und Jungen, die in der von UN-Soldaten bewachten „Schutzzone“ vor den Augen der UN-Soldaten von Serben ermordet wurden. Und während im Fernsehen eine türkische Telenovela läuft, sagt Mirela vorsichtig: „Es geht um Bildung. Bildung ist der Schlüssel dazu, dass Menschen friedlich zusammenleben können. Ich bin überzeugt, dass Menschen lernen können, füreinander Verständnis aufzubringen.“ Etwas sicherer fügt sie hinzu: „Dafür ist aber Geduld nötig.“ Schließlich lacht sie. „Das hier ist der Balkan. Da gehen die Uhren sehr langsam.“
Auf dem Rückweg komme ich an der Baustelle vorbei, auf der Mirelas Vater arbeitet. Dort steht er in der weißen, harten Sonne, einen Zigarettenstummel im Mund. Er grinst mich an und dann haut er mit seinem Hammer weiter auf einen klobigen Brocken Stein.
Autor: Birgit Schmunk
Der Text erschien zuerst auf balkanstories.net, dem reichweitenstärksten deutschsprachigen Blog über den Balkan. Hierfür herzlichen Dank an Christoph Baumgarten.