Kurzerzählung
Regennacht
Alfred Kümmerling seufzte. Wieder einmal plagte ihn die Schlaflosigkeit. Er öffnete sich ein Bier und starrte trübsinnig durch die regenverschmierten Fenster in die Nacht. Die Straßenlaternen flackerten müde.
Auf dem Parkplatz bog ein altersschwaches Auto ein und verendete keuchend in einer Parklücke. Nach einer Weile stieg ein Mensch mit Aktentasche aus und blickte sich suchend um, bevor er seinen Regenschirm aufspannte. Doch die Fenster der Plattenbausiedlung blieben stumm. Kümmerling wandte sich ab und murmelte: „Der fährt auch keine FormelEins mehr.“
Er schritt bedächtig in die Küche. „Jetzt noch einen Doppelten, dann kann ich hoffentlich etwas schlafen.“ Der Regen hörte nicht auf, platschend auf dem Fensterbrett zu verenden. Im Neonlicht des Kühlschranks grinste ihn eine halbleere Dose Red Bull an. Kümmerling schnaufte. „Flügel. Von wegen.“
Unter seinen Füßen schmatzte es. Er schaute auf den Boden. Ein Glas Erdbeermarmelade war umgefallen und die klebrige Flüssigkeit schlich langsam über das billige Linoleum. Kümmerling ließ den Hosenträger über seinem Unterhemd schnappen. „Auch das noch.“ Missmutig langte er nach einem Scheuerlappen.
Da zerfetzte die Türklingel die einsame Nacht. Grell und fordernd.
Kümmerling schreckte zusammen. Wer konnte das nur sein, um diese Zeit? Er lauschte, doch nichts war zu hören außer dem ewigen Platschen des Regens. Es klingelte noch einmal.
Vorsichtig schob er mit seinen nackten Füßen die Erdbeermarmelade zur Seite und ging zur Tür. Auf der anderen Seite vom Guckloch erkannte er in der schwachen Treppenhausbeleuchtung den alten Mann vom Parkplatz. Kümmerling kratzte sich den Schädel, doch öffnete langsam mit eingehängter Türkette. „Ja?“ – Der Alte schüttelte seinen Regenschirm aus und sagte schlicht: „Wären Sie so gut und hätten ein Glas Wasser für mich? Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen kann. Nur hinter Ihrem Fenster brennt Licht.“
Kümmerling beäugte ihn misstrauisch. „Ich kaufe nichts. Und Geld habe ich auch keins.“ stieß er nach einer Pause hervor. Der alte Mann lächelte müde: „Ich möchte wirklich nur ein Glas Wasser.“
In einem Anfall von ungewohnter Leichtsinnigkeit entschied Kümmerling, dem Fremden seine Bitte zu gewähren. Als er dem Alten das Glas Wasser zur Tür brachte, musterte dieser Kümmerling eingehend und fügte bedeutungsvoll hinzu: „Ich bin auf meiner letzten Reise.“
„Hä? Letzte Reise…? Wo wollen Sie denn hin, in der Rostlaube? Damit kommen Sie nicht weit.“
„Mein Auto ist alles, was ich habe. Es ist mir egal, wo es mich hinbringt. Ich sagte doch, es ist meine letzte Reise. Mein Lebenswerk ist vollbracht.“
Kümmerling verstand nichts mehr. Er musste es mit einem Verrückten zu tun haben. „Lebenswerk? Welches Lebenswerk?“
„Hier.“ Der Alte hielt Kümmerling seine Aktentasche vor die Nase. „Hier drin. Eine Creme, die ewige Jugend verleiht. Ich habe mein ganzes Leben danach gesucht. Als ich das Rezept gefunden hatte, war in der Zwischenzeit mein Hund an Altersschwäche gestorben und meine Frau mit meinem einzigen Freund durchgebrannt… – Übrigens, vielen Dank für das Wasser.“ Sagte es, griff seinen Regenschirm und schritt in die Nacht hinaus.
Kümmerling schloss kopfschüttelnd die Tür. Das war ja gerade nochmal gut gegangen. Bei solchen Verrückten weiß man nie, wozu die in der Lage sind. Erleichtert rückte er seine Hosenträger zurecht.
Als er sich umwandte, um zurück in die Küche zu gehen, stolperte er.
Fluchend schaute er nach unten.
Es war die Aktentasche.
Die Erzählung entstand während eines Kurses am Text-College München.
Herzlichen Dank an Wolf Bruns für die solide, kluge und vor allem praxisnahe Ausbildung.